Kapitel 4.1: Das Erkennen komplexer Sachverhalte

Die Gestalt-Psychologie hat eine ganze Reihe von Gesetzen entdeckt, die bestimmten Organisationstendenzen der menschlichen Wahrnehmung entsprechen. Das Gesetz der Übersummativität besagt z. B., daß die einzelnen Elemente eines sinnlichen Reizes nicht "atomistisch" wahrgenommen, sondern zu Gestalten strukturiert werden. (Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.) Das Erkennen solcher Gestalten durch den Menschen erfolgt ganzheitlich. Läßt sich das Identifizieren solcher Gestalten "mechanisieren" - und damit in Teile zerlegen?

Am Beispiel des Portraits eines Menschen läßt sich die Problematik demonstrieren: Jeder Mensch hat Nase, Ohren, Mund usw. Wenn man diese Elemente zusammenfügt, so kommt man zwar zu der Erkenntnis, daß es sich um das Gesicht eines Menschen handeln muß, doch den Unterschied zwischen einem gelungenen und einem mißratenen Portrait kann man auf diese Weise nicht erfassen. Auch daß die Nase als "groß, lang und spitz" beschrieben werden kann, reicht zur Kennzeichnung nicht aus: Es ist einfach eine winzige Rundung hier, eine kleine Einbuchtung dort, die ein gelungenes von einem mißratenen Portrait unterscheiden.

Die Einteilung in Nase, Mund und Ohren ist allerdings selbst dann noch zu grob, wenn man diese Einzelelemente als groß, lang oder spitz beschreibt. Man muß wesentlich feiner unterteilen. Und daß dies möglich ist, zeigt die Arbeit des Bundeskriminalamtes, dem es gelingt, aus Millionen von Fingerabdrücken aufgrund eines ausgeklügelten Kategorien-Systems in Sekundenschnelle einen speziellen Fingerabdruck herauszufinden. Am sichersten ist die "Digitalisierung" des Bildes, wie sie mit Hilfe einer Videokamera und eines Computers möglich ist. Bei diesem Vorgehen wird das Bild in kleine Punkte zerlegt, und jeder Punkt ist in Form seiner Koordinaten eindeutig durch ein Zahlenpaar bestimmt. Aus solchen "Punkten" läßt sich die kleinste Rundung zusammensetzen. Auf diese Weise kann man sehr leicht sogar ein Maß für die "Ähnlichkeit" zweier Bilder entwickeln. Ein Computer könnte also sehr gut entscheiden, ob ein Portrait gelungen oder mißraten ist.

Daß dabei aber dennoch nicht die Dimension erfaßt wird, die mir das Wiedererkennen eines Fotos ermöglicht, daß also beim Muster-Erkennen komplexe Prozesse beteiligt sind, die mehr beinhalten als mechanisches Feststellen von "Deckungsgleichheit", zeigt uns die sog. Karikatur:

Einer Karikatur werden bei einer derartigen Digitalisierung völlig andere Zahlen zugeordnet. Das Maß der "Ähnlichkeit" zwischen Portrait und Karikatur dürfte bei dieser Art der Quantifizierung dann also nahe bei Null liegen, obwohl menschliche Betrachter sehr wohl in der Lage sind, eine Ähnlichkeit zu sehen. (Analoge Schwierigkeiten des Verständnisses der Prozesse beim Wiedererkennen von Gestalten ergeben sich übrigens auch im Be-reich der Musik *78, s.u.).

Bei genauerer Betrachtung jedoch zeigt sich, daß Verzerrungen der Gestalt, wie sie in einer Karikatur hervortreten, mathematisch erfaßbar sind. Anschaulich wird dies an den "Zerr-Spiegeln", wie man sie manchmal auf Jahrmärkten findet. Hier sehen wir "Karikaturen" unserer selbst durch Spiegelung in verschieden gebogenen Spiegeln. Die dabei auftretenden Verzerrungen lassen sich in mehr oder weniger komplizierten mathematischen Funktionen beschreiben, durch einen Computer berechnen und auf dem Bildschirm des Computers sichtbar machen.

Entsprechend läßt sich anhand dieser Funktionen wiederum ein Maß für die Ähnlichkeit entwickeln - und in geeigneten Experimenten könnte sogar ermittelt werden, wie die Funktion, welche die Verzerrung beschreibt, beschaffen sein muß, so daß der Mensch noch gerade eine Ähnlichkeit zu sehen in der Lage ist. Damit wäre also tatsächlich der Prozeß der Identifikation einer komplexen Gestalt, nämlich eines Gesichts, so "zerlegt", daß er dem "mechanical measurement" im Sinne von WIGGINS (s.o.) sehr weitgehend entspricht. Wir haben hier also ein Beispiel dafür, daß es möglich ist, den Prozeß der Identifikation einer komplexen (visuellen) Gestalt zu mechanisieren.

Dieses Beispiel macht deutlich, daß es eine Frage unseres wissenschaftlichen und technischen Entwicklungsstandes ist, wie weitgehend bestimmte von Menschen wahrnehmbare Aspekte der Realität im beschriebenen Sinne objektiviert werden können; denn noch vor einigen Jahrzehnten wäre die gerade beschriebene Form der Quantifizierung einer visuellen Gestalt technisch nicht realisierbar gewesen (wohl aber theoretisch). Es geht also, angewendet auf die Fragestellung in diesem Kapitel, nicht darum, ob prinzipiell eine Objektivierung des erwähnten ganzheitlichen Eindrucks möglich ist bzw. sein wird, sondern ob die derzeit verfügbaren Mittel weit genug entwickelt sind, um mit ihrer Hilfe bereits eine definitive Entscheidung zu fällen. Was die Naturwissenschaften angeht, ist v. WEIZSÄCKER der Meinung, daß sie es nicht sind. *79

Eine Analogie zum Erkennen eines Gesichts ist in der Musik das Erkennen einer Melodie. Das Erkennen einer Melodie ist jedoch noch sehr einfach, wenn man es vergleicht mit dem Erkennen musikalischer Stilrichtungen. Physikalisch gesehen ist "Musik", sind zumindest alle "Details", alle Einzelheiten, die in ihrer Gesamtheit "das physikalische Ereignis Musik" ausmachen, exakt meßbar *80. Diese Meßdaten jedoch führen nicht zu einem Verständnis von Musik *81. Im Falle der Musik führt offenbar kein Weg von den (physikalischen) Details, die "mechanisch meßbar" sind, zum Identifizieren der musikalischen Gestalten. Um zu einem Verständnis von Musik zu gelangen, müssen wir, zumindest beim gegenwärtigen Stand unserer Einsicht in die Zusammenhänge, auf "Tatsachen" Bezug nehmen, die (zumindest derzeit) nicht "quantifizierbar" sind. Sie sind zu komplex.

Die Fähigkeit der Wahrnehmung solcher "Tatsachen" und ihrer Verbindung zu einer sinnvollen Gestalt bezeichnet man meist als Intuition. Intuition kennzeichnet nicht nur den Agenten erfolgreicher Künstler, sie kennzeichnet den besonders guten Diagnostiker (sei er Arzt, sei er Psychologe), den besonders guten Gärtner, den "geborenen Psychotherapeuten" *82. Das Urteil dieser Menschen ist in seiner Ätiologie auch für den Urteilenden selbst meist schwer beschreibbar, das ist ein Charakteristikum der Intuition. Wenn es beschreibbar wäre, wäre es nachvollziehbar und "lehrbar". Dann aber wäre es nicht mehr Intuition, sondern die Anwendung von Regeln. *83

Eine Urteilsbildung auf der Basis von Intuition bedeutet jedoch keineswegs, daß man nicht regelgeleitet zum gleichen Ergebnis kommen könnte. Oft werden "intuitive" Erkenntnisse von Wissenschaftlern hinterher in ihrer Gesetzmäßigkeit erkannt und beschrieben. In vielen Bereichen unseres alltäglichen Lebens haben sie aber auch ohne derartige wissenschaftliche Beweise, ihrer praktischen Bedeutung wegen, eine unangefochtene Stellung.

Daß es eine Intuition gibt, die uns komplexe Zusammenhänge richtig erkennen läßt, ist also eine Trivialität, und sie wird auch von konservativen Wissenschaftstheoretikern nicht bestritten. POPPER (1969) verweist sie allerdings in den "Context of discovery"; sie hat seiner Auffassung nach nur heuristischen Wert, ist nur bedeutsam für die Generierung von Hypothesen, kann aber nicht als Kriterium für die tatsächliche Existenz eines Sachverhaltes akzeptiert werden. Auch Wissenschaftler, die der Intuition einen hohen Stellenwert einräumen, wie z. B. JASPERS (siehe Anm. 62), sehen sie als eine, wenn auch unvermeidliche, "Notlösung" an: "Persönliche, intuitive Kennerschaft - die sich naturgemäß sehr oft irrt - werden wir überall da mißbilligen, wo dasselbe wissenschaftlich gewußt werden kann." (1948, 2)

Da aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse keineswegs ein Garant für Wahrheit sein können, bleibt es eine Ermessensfrage, welchen Stellenwert man der Intuition bei der "Beweisführung" zubilligen will. Die Tatsache, daß Intuition, die ja auch die Basis des hier behandelten "Evidenz-Erlebnisses" ist, irren kann, entwertet sie als Ganzes genausowenig, wie das Wissen um optische Täuschungen die optische Sinneswahrnehmung als Ganzes entwertet. In beiden Fällen wird man prüfen, ob es in einem konkreten Fall Gründe für die Annahme besonderer Täuschungsmöglichkeiten gibt, wie z. B. bei der optischen Wahrnehmung das Vorliegen komplexer visueller Reizmuster, Spiegelungen (das Phänomen der sog. "Fata Morgana") usw., und wird in solchen Fällen besondere Sorgfalt walten lassen.

Es gibt also tatsächlich Beispiele für die Wahrnehmung komplexer Sachverhalte, die auf einem "ganzheitlichen Eindruck" beruhen (Intuition), quantitativ-statistisch nicht nachvollzogen werden können (bei intuitiven Erkenntnissen per definitionem) und deren Angemessenheit allgemein akzeptiert ist (sogar von POPPER, wenn auch nur im "Context of discovery"). FROMMs Behauptung, "daß die menschliche Vernunft und das menschliche Vorstellungsvermögen die trügerische Oberfläche der Erscheinungen durchdringen und zu Hypothesen gelangen kann, die sich mit den Kräften befassen, welche unter der Oberfläche liegen" (siehe Kap. 3.4), ist also richtig - schon deshalb, weil FROMM ganz im Sinne POPPERs in diesem Zitat nur die Generierung von Hypothesen anspricht.

Es ist daher also auch keineswegs unvernünftig, aufgrund intuitiver Erkenntnisse (die erwähnten Evidenz-Erlebnisse) mit v. WEIZSÄCKER anzunehmen, daß es einen "Zusammenhang zwischen Kosmos und Seele" gibt, auch wenn dieser sich vielleicht einer quantitativ-statistischen Überprüfung entzieht.

Da die bisher vorgebrachten Argumente jedoch recht allgemein sind und zum Vorgehen in der Astrologie eher in einem Verhältnis der Analogie stehen, soll die gerade formulierte Schlußfolgerung noch konkreter begründet werden.


 Kapitel 4
Kapitel 4.2 
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